Mögen sich Tränen in Freude wandeln

Kammerchor Baden-Württemberg begeisterte das Publikum in der Christuskirche

Teckbote, 08.03.2022

Kirchhelm. Nach langen Monaten unfreiwilligen Verstummens und der Entbehrung kultureller, besonders vokaler Ereignisse, war die Freude umso größer, dass der Kammerchor Baden-Württemberg unter der Leitung von Jochen Woll wieder in Kirchheim zu Gast war. Unter dem Leitthema „Tränen und Freude" stellte der Chor sein neues A-cappella-Programm mit Kompositionen von Schütz, Bach, Rheinberger, Brahms sowie einer Uraufführung eines Werkes seines Dirigenten, Jochen Woll, vor.
Die Frage stellt sich, insbesondere bei gesungenem Repertoire: Was singt man in diesen Zeiten zwischen Bangen und Hoffen, zwischen erforderlichen Einschränkungen und individueller Freiheit? Die ausgewählten Werke trugen sowohl der aktuellen Lage Rechnung,
waren aber auch perfekt auf den Klangkörper des Ensembles abgestimmt.
Eröffnet wurde das Konzert mit der Motette „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten" von Heinrich Schütz. Der zugrunde liegende Psalm 126 formuliert die Hoffnung, dass sich Tränen in Jubel wandeln mögen. In diesem Werk offenbarte sich bereits eine der großen Stärken des Ensembles, die plastische, deutliche Textverständlichkeit, die einen expressiv „sprechenden Schütz" hervor­ brachte. Auf derselben Textbasis hat der Dirigent eine Musik komponiert, die seinem Chor einiges abverlangt. Dieser meisterte die intonatorischen, dynamischen und interpretatorischen Klippen hervorragend. Im Piano begin­nend, fächerte sich die Komposition immer mehr auf, um sich auf einen ersten Höhepunkt zustre­bend, schließlich auf dem Wort „Tränen" in einem weitgespann­ten Akkord mit Spitzenton im Sopran zu entladen. Mit Brahms Motette „Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen?", Opus 74 Nr. 1, wurde die Brücke zur musikalischen Romantik geschlagen. Wie in seinem „Deutschen Requiem" kombinierte Brahms Texte aus dem Alten und Neuen Testament. Die vierteilige Motette thematisiert die Frage nach der Ent­ stehung des Leids, die Theodizee. Gefordert und inspiriert durch das klare Dirigat Jochen Wolls stellte der Chor die bohrenden „Warum"­ Fragen des Beginns wie monolithi­sche Blöcke in das Kirchenschiff. Woll führte die Sängerinnen und Sänger durch klare, motivierende
Gesten und Auftakte sicher durch das anspruchsvolle „Fahrwasser" der Komposition mit einer Stimmführung bis zur Sechsstimmigkeit, herausfordernden Intervallsprüngen, Dissonanzen und kanonischen Teilen. Dem Chorklang fehlte hier letztlich nur etwas die warme, satte Tiefengrundierung, die Sopranstimmen dominierten -wohl dem coronabedingten Ausfall einiger Sängerinnen und Sänger geschuldet.
Als Hauptwerk des Abends in der gut gefüllten Christuskirche erklang Johann Sebastian Bachs bekannte Trauermotette „Jesu meine Freude" für fünf­ stimmigen Chor auf der Grundlage eines Chorals von Johann Franck und Johann Crüger. Ohne eine stützende Generalbassbegleitung verlangte das elfteilige Werk dem Chor nochmals alles ab: Fugen mit anspruchsvollen Koloraturen, Choräle, sogenannte Spruchmotetten sowie Terzette bildeten die musikalische Textur des zentralsymmetrischen Werkes. Es gelang dem Chor, die Binnenspannung der einzelnen Sätze über­ zeugend zu gestalten sowie die Gesamtspannung bis zum Schlusschoral aufrechtzuerhalten .Die Koloraturen wurden fein und genau ausziseliert gesungen, machtvoll und intonatorisch scharf - mit einer gewissen Tendenz zur Grellheit. Mit dem schönstimmig musizierten Choral „Weicht ihr Trauergeister" endete die musikalische Entdeckungsreise durch Bachs Meisterwerk.
Nach einer kurzen, meditativen Stille belohnte langer Beifall die Leistung des hervorragenden Ensembles und seines Dirigenten.

[Winfried Müller]