Die Kraft kommt aus der Stimme

Kammerchor unter Jochen Woll in der Raphaelkirche

Rhein-Neckar-Zeitung, 17.09.2018

Im Untertitel der Konzertüberschrift „Erbarmen!" standen sich Flehen und Erhören noch gegenüber: Dirigent Jochen Woll hatte klare Aussageziele vor Augen, und sein Dirigat machte diese dem Kammerchor Baden-Württemberg unmissverständlich deutlich. Da wurden die Stimmen zu Joseph Rheinbergers „Miserere" erhoben, und war neben leichtem Zweifel gleich eine unglaubliche Zuversicht zu spüren. Im farbgewaltigen Sangesstrom entwickelte sich solche Überzeugungskraft, dass man sich einfach sicher sein musste, die Bitte „Sei mir gnä­dig" sei erhört worden. Selbst als das
„Miserere mei" wieder in verletzliche Höhen entschwand, überzeugte gewaltige Tutti-Stärke vom eigentlichen Gegenteil: Die Kraft kommt aus der Stimme.
Für Mendelssohns „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir" hatte Woll anstelle des Tenor-Solos einen eigenen Männerpart geschrieben, was dieses zutiefst ergrei­fende Werk noch mehr Gefühlsschichten durchziehen ließ. Unterschiedlichste dy­namische Felder wurden da durchstreift, absolut entgegengesetzte Deklamationsstile von kompromissloser Diktion bis zu besonnenem Einlenken gaben sich hier die Hand, und alles war bei Wolls entschlos­senem Taktschlag permanent in Bewegung, wodurch die Dringlichkeit nie zur Seite wich. Nebenbei war das auch eine außergewöhnliche Gesangsleistung; solch eine Vielzahl von Charakteren in den Gesamtfluss zu integrieren.
Bei Brahms erhielten klar artikulierte Verse der Motette „Schaffe in mir Gott ein reines Herz" durchaus etwas Mahnendes, was diesen Worten besondere Eindringlichkeit verlieh. Selbst wenn das Werk überaus aufgelockert endet. Tiefer in die Materie des Glaubens stieß Bruckners „Christus factus est" vor mit den für ihn typischen radikalen Wechseln von weihevoller Stille zu brachialen Gewaltausbrüchen, die physisch wie psychisch bis ins Innerste aufwühlten. Woll achtete mit zügigen Abphrasierungen jedoch auf einen stetigen Zug im Tempo, um das Ganze nicht zu sehr in persönliche Spi­ritualität oder mystische Verklärung entgleiten zu lassen. Bruckners "Os justi meditabitur" bewies dann seine allumfassend vereinnahmende Geborgenheit, die Sänger wie Zuhörerschaft gleichermaßen umarmte.
Krzysztof Penderecki schrieb sein achtstimmiges „Agnus dei", als er vom Tod seines Freundes Kardinal Wyszynski erfahren hatte, einem Symbolträger für geistlichen Widerstand gegen das kommunistische Regime Polens. Angefangen mit einem flehendem Gebet im unsicheren Schwebezustand, steigert sich dieses in immer größere Verwirrung: beängstigend, zerrüttend und verstörend. Knallhart abgebrochen endete es in Stil­le. Da man aber nicht in diesem Zustand die Raphaelskirche verlassen sollte, rundete der Chor diesen eindrücklichen und äußerst substanziellen Abend mit dem versöhnlichen Abendsegen Rheinbergers ab: „Herr bleibe bei uns".

[von Simon Scherer]