Zeitlos durch die Vokalkunst der Epochen

Kammerchor des Landes in der Heidelberger Raphaelkirche

Rhein-Neckar-Zeitung, 19.09.2017

Als Jochen Woll seine Sangesstimmen über alle Ecken und Phrasenenden von Josquin Desprez' „Agnus Dei" hinweg­ schweifen ließ, wo das Gefühl von Anfang und Ende gänzlich verloren ging, erhielt der Titel dieses Konzerts, „Zeit-los", schnell seine Berechtigung. Auch deshalb, weil diese älteste polyphone Musik (Desprez wurde 1440 geboren) gar nicht soweit von späteren Epochen entfernt lag. Das raffinierte Spiel mit Echo-Effekten traf hier gekonnt die Mitte zwischen er­widerndem Nachhall und Weiterentwicklung. Woll gab hierbei jedem Register seines Kammerchores Baden-Württemberg individuell Zeit zum Aufbäumen und Abflauen, ließ sie gleich­zeitig aber das Gesamtkonstrukt nie verlassen.
Nächste Station dieser Zeitreise war der einstige Thomas-Kantor Johann Hermann Schein. Überaus ernst und dringlich meinten es die Sänger mit dessen Bitte „Wende dich, Herr, und sei mir gnädig": Einmal gelöst und nach vorne orientiert, zugleich aber von einer nicht zu verbergenden Angst geleitet. Hinter der sorgfältigen Herausarbeitung dieser hochkomplexen Strukturen steckte meisterhafte Chorarbeit. Das verriet auch Bachs „Der Geist hilft unser Schwachheit auf", das vom ersten Einsatz an in stechend scharfer Präzision und Rhythmisierung hervorschoss. Unglaublich diese Energie, die da die Raphaelskirche hellauf erstrahlen ließ. Zwischendurch schraubte Woll den Regler an Schlagfertigkeit zugunsten federnder Leichtigkeit allerdings auch gern mal runter.
Der große Bach-Verehrer Mendelssohn verschaffte mit „Mein Gott, warum hast Du mich verlassen" zahlreichen Sängern auch solistische Auftritte, wo besonders die Tenöre mit ausgereiften Stimmcharakteren überzeugten. Bei sei­ner Bearbeitung von Mendelssohns „Verleih uns Frieden" hatte Woll mit der radikalen Entschleunigung in vier Langsamkeiten nicht zu viel versprochen. Die still und autark vor sich hinlebenden Töne haben ihre meditative Wirkung definitiv nicht verfehlt.
In der Gegenwart war man mit Petr Ebens „De tempore" angekommen, das mit Klangzitaten verschiedener Stilistiken und viel Sprechgesang, Glissandi und Disharmonien dem Konzert-Motto wahrscheinlich am besten gerecht wurde. Diese Musik war nämlich nirgendwo zu verorten und versetzte mit konträr aufeinandertreffenden Elementen die Hörgewohnheiten des Publikums nicht selten in eine Orientierungslosigkeit. Faszinierend.

(Simon Scherer)