Umschlossen von bewegenden Stimmen

Junger Kammerchor Baden-Württemberg in der St.-Raphael-Kirche Heidelberg – Englische Chormusik aus vier Jahrhunderten

Rhein-Neckar-Zeitung, 16.09.2013

Damals, im 16. Jahrhundert, in Zeiten der venezianischen Mehrchörigkeit, wollte man die geweiteten Räume der prachtvollen
Kirchenbauten auch im Erleben des Klanges spürbar machen: Zwei oder mehrere Chöre verteilten sich im Raum, antworteten im Wechsel aufeinander oder vereinigten sich zum Tutti. Heute allzu selten aufgeführt konnte man solch eine historische Darbietung nun in St. Raphael
in Heidelberg erleben.
In vier Ecken hatte sich der Junge Kammerchor Baden-Württemberg in kleinen Gruppen zusammengefunden, in der Mitte stand Chorleiter Jochen Woll. Als nun das „Sancte Deus“ des vor allem zu Zeiten der englischen Reformation komponierenden Thomas Tallis erklang,
breitete sich eine ganz eigene Atmosphäre im Kirchenschiff aus. Aus verschiedenen Richtungen strömten die weichen Frauenstimmen und grundierenden Bässe, jede Gruppierung des Chores in einer besonderen, sehr individuellen Dynamik.
Für jeden Konzertbesucher erklang hier etwas anders, je nachdem, an welchem Ort der Kirche er Platz gefunden hatte. Und selbst im Tutti trug der Klang einen anderen Charakter, als wenn der Klangkörper frontal ertönte. Hier fanden die Stimmen erst im Singen zueinander und wurden irgendwo in den Höhen des Kirchengewölbes zu einem Ganzen vereint.
Den Kontrast hierzu zeigte William Byrds „Sing Joyfully“, für das sich der Chor am Altar zum großen Tutti versammelt hatte und mit großem Enthusiasmus eine unglaubliche Klangwelle über seine Zuhörer hinwegströmen ließ. Die bewundernswerte Textverständlichkeit
hierbei ist sicher dem äußerst aufmerksamen und wachen Dirigat Jochen Wolls zu verdanken, der stets in einem sehr engen
Blickkontakt und Austausch zu jedem einzelnen Sänger steht.
Als eine Mischung von alter Musik und neuen Ideen kündigte Woll Henry Purcells „Hear my prayer“ an, dem der zeitgenössische schwedische Komponist Sven-David Sandström eine ganz neue Gestalt verlieh. Mit dem Ziel, die Menschen nebenbei auch zu erfreuen, verteilte sich der Chor in einer Art Kreis um das Kirchenschiff, um mit seinen Gesängen die Zuhörerschaft zu umarmen. Während zu Beginn eine sehr angenehme Tonlage dezent die Kirche erfüllte, steigerten sich diese immer mehr in Dramatik und Intensität, legten rasant an Höhe zu, ergriffen einen energisch und eindringlich: Man befand sich Atmosphäre großer Bedrückung, die dann plötzlich wieder abebbte. Seine Wirkung verfehlte diese Musik nicht, das Publikum verfiel sogleich in stürmischen Applaus. Ebenfalls die Farben der alten Musik mit neuen Klängen
zusammengeführt hat der Jubilar Benjamin Britten, teils in provokanter, dann aber auch versöhnlicher Weise. Anlässlich seines 100. Geburtstages stellte „Ad Majorem Dei Gloriam“ mit seinen sieben Motetten das Hauptwerk des Abends dar. In zahlreichen Unisonopassagen wurde Brittens Botschaft sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, welche zwischen Marienverehrung und dem Protest gegen die Entwicklung der Welt changiert. In beeindruckenden dynamischen Sprüngen, den sich nie zu sehr in den Vordergrund drängenden Höhen der Soprane oder dem krassen Stimmungswechsel vom Wehklagenden hin zu hämmerndem Staccato zeigte der Chor seine hervorragenden sängerischen Qualitäten.
Ausklingen ließ man den Abend mit den englischen Romantikern Edward Elgar und Edward Bairstow.
Von Simon Scherer