Die vielen Töne des Vaterunser

Junger Kammerchor Baden-Württemberg rund um das zentrale Gebet der Christenheit

Odenwälder Echo, 17.09.2008

REICHELSHEIM. Ein außergewöhnliches Konzert erlebten die Besucher der Reichelsheimer Michaelskirche. Stand es doch ganz im Zeichen des Vaterunsers, des zentralen Gebets des Christentums. Weil der Text die Komponisten über die Jahrhunderte hinweg immer wieder beschäftigt hat, mangelte es dem Jungen Kammerchor Baden-Württemberg nicht an Stoff für seine Zeitreise rund um diese Fürbitte.
  Das vom Land Baden-Württemberg und von der Stadt Stuttgart geförderte Vokalensemble unter Leitung von Jochen Woll gastierte zum zweiten Mal in Reichelsheim und folgte erneut der Einladung von Pfarrer Carsten Stein, der selbst in diesem Chor mitsingt. Die Kirchenglocken läuteten das Konzert ein, und die 23 Chormitglieder betraten das Gotteshaus in zwei Reihen wie Mönche, die sich singend auf den Weg machen. Der gregorianische, aus dem Mittelalter stammende Choral „Pater noster“ erklang beispielhaft für den einstimmigen liturgischen Gesang der abendländischen Kirche in der lateinischen Originalsprache.
Darauf stimmten die schwarz gekleideten Sängerinnen und Sänger mit den rubinroten Schals und Fliegen das Vaterunser des Flamen Adrian Willaert (1490-1562) an. Die ineinander fließenden Stimmeinsätze des Renaissance-Stücks wogten gleichmäßig auf und ab. Hundert Jahre später komponierte Heinrich Schütz (1595-1672), Vertreter des Frühbarock und der Tradition der Lateinschule folgend, das „Bendicite“ (Eröffnungsruf der Gebete vor der Mahlzeit) und seine Version des Vaterunsers, die durch geradezu kaskadenartige Tonfolgen beeindruckte.
Fast lautmalerisch ertönte die Trauermotette des Barockmeisters Johann Sebastian Bach (1685-1750), die Klage und Zuversicht gleichermaßen zum Ausdruck brachte. Stellvertretend für das 19. Jahrhundert dirigierte Jochen Woll die schwermütige, getragene Version von Franz Liszt (1811-1886), gefolgt von Felix Mendelssohn Bartholdys (1809-1847) „Ehre sei Gott in der Höhe“, dessen solistische Melodienschleifen faszinierten. Nach der Pause wurde die Reihe der Vokalwerke aus sieben Jahrhunderten mit „O Padre Nostro“ von Giuseppe Verdi (1813-1901) fortgesetzt. Der italienische Opernkomponist, ein „erklärter Atheist“, schrieb eine der „anrührendsten“ Gebetsversionen, so der Chorleiter. Das Werk wirkte gleichermaßen orchestral-mächtig und feinfühlig-nuanciert. Anschließend wurde die Gebetsvertonung „ganz Geiste der Romantik“ des Brasilianers Heitor Villa-Lobos (1887-1971) vorgetragen.
Beispielhaft für die „Neue Musik“ war das Pater noster von Igor Strawinsky (1882-1971) zu vernehmen; getragen und inständig füllte es den Kirchenraum. Konzentriert folgten die Blicke des Chores dem Dirigat von Jochen Woll, der die Töne mit ausladenden Bewegungen aus den Kehlen hervorzulocken und sie mit minimalen Gesten zu formen schien und dessen Mimik die Stimmung der Kompositionen wiederspiegelte. Ein Hörerlebnis der besonderen Art bot das „De tempore – Ein jegliches hat seine Zeit“ des im vergangenen Jahr tschechischen Komponisten Petr Eben (1929-2007).
Spannung erzeugende Klangsequenzen wechselten mit rhythmischen Sprechgesängen, Flüstern und unvermittelten Rufen, einmündend in den paradiesischen Lobgesang „Ins Paradies mögen dich die Engel geleiten“. Beeindruckt zollten die Zuhörer kräftigen Beifall für die exzellente Gesamtdarbietung. Ein Teil des Konzerterlöses wird der dringend notwendigen Renovierung des Daches der Reichelsheimer Kirche zugute kommen. „Mit ihm und dem Turm werden wir uns in der nächsten Zeit ein bisschen intensiver beschäftigen müssen“, resümierte Pfarrer Carsten Stein.

(Sabine Koch)