Vom Flügel pocht der Puls der Finsternis

Mit einem ernsten Chorwerk, dem Requiem von Brahms, startete der Kammermusikzyklus in der Listhalle

Reutlinger Generalanzeiger, 19.10.2004

Eigentlich würde man es eher in der Kirche vermuten, das Requiem von Brahms, und nicht im Konzertsaal. Schon gar nicht als Auftakt einer Kammermusikreihe. Genau das aber ist am Sonntagabend passiert: Da startete der Reutlinger Kammermusikzyklus mit dem Brahms-Requiem in der Listhalle. Und nicht nur das sakrale Ambiente hatte man weggelassen, sondern das Orchester gleich mit: Den Jungen Kammerchor Baden-Württemberg begleiteten Andreas Grau und Götz Schumacher vierhändig am Klavier.
Irgendwie alles anders. Aber natürlich hat sich Jean-Paul Riehl, der künstlerische Leiter der Reihe, was dabei gedacht. Hat Brahms nicht selbst in seinem Werk jeden Bezug zur Kirche gemieden? Kein Credo, kein Agnus Dei, sondern allgemein menschliche Gedanken zu Tod und Trauer und Ewigkeit. Also raus aus der Kirche und rein in den Konzertsaal!

Tatsächlich entfaltet sich bereits mit den ersten Tönen eine andere Atmosphäre als gewohnt. Innig und intim wirkt das dunkle Tupfen des Klavierbasses am Anfang. Der zarte Choreinsatz wirkt ohne den Hall eines Kirchenschiffs nackt und bloß wie Adam nach dem Apfelbiss. Zuerst kommt einem das viel zu analytisch vor, doch bald offenbart die Situation ihre Vorzüge: Keine Hallenakustik verschliert die wunderlichen Wandlungen durch den Quintenzirkel. Kein Orchesterklang kleistert das feine Gewebe der Chorstimmen zu. Schön und verletzlich zugleich klingt das, was die Sängerinnen und Sänger unter der engagierten Leitung von Jochen Woll gestalten.

Wuchtige Todesklage

Der zweite Satz mit seiner archaischen Todesklage scheint geradezu nach dunklen Pauken und Posaunen zu schreien. Aber gerade dieser Satz funktioniert mit Klavier besonders gut. Götz Schumacher pocht tief im Bass erbarmungslos den Puls der Finsternis. So gnadenlos erleben wir den Flügel erst bei Bartók wieder. Den dritten Satz macht allein das Bariton-Solo von Ekkehard Abele zu einem Erlebnis. Rund und raumfüllend, tragfähig und kraftvoll strömt seine Stimme.

Doch dann, im vierten Satz, passiert es. Lebendig schwingen die Chorlinien, doch die gemessenen Begleitakkorde vom Klavier wirken merkwürdig trocken und konventionell - irgendwie nach Hausmusik. Im folgenden Satz wird es noch deutlicher: Herrlich erhebt sich das Sopransolo von Sabine Götz, kristallklar ist ihre Stimme, von fast überirdischem Glanz. Aber im Vergleich dazu klingt die Begleitung vom Flügel trocken, prosaisch - wieder wie Hausmusik. Nun vermisst man das schwerelose Streicherfunkeln, den Strahlenkranz der Kirchenakustik, und selbst Grau/Schumacher können das mit ihrer erlesenen Tastenkunst nicht wieder herzaubern.

Der suchende, »tastende« sechste Satz schmiegt sich den Klaviertasten noch einmal passgenau an. Der Schlusssatz aber, mit seinem meditativen Gewoge der Stimmen, der in die Sphäre des Überirdischen hinausweisen will, findet einfach nicht zu dem entsprechend verklärten Klangbild. Noch einmal fehlen Streicher- und Bläserklänge, noch einmal fehlt ein Raum, in dessen Hall der Schlusston sublimieren kann.

Eröffnet hatten den Abend Schumacher und Grau mit fünf Choralvorspielen Bachs, von György Kurtág für vierhändiges Klavier bearbeitet. Auch hier tauchten Werke, die man in der Kirche vermutet hätte, im Konzertsaal auf. Behutsam ließen sich die beiden Pianisten jeden Ton auf der Fingerkuppe zergehen. Sorgfältig sortierten sie die musikalischen Ebenen. Die sakrale Anmutung, die im Konzertsaal verloren ging, ersetzten sie durch geschmackvoll dosierte Emotionalität. Es war ein Bach durch die Brille des gefühlsbetonten Musik-Erlebens der Gegenwart gesehen.

VON ARMIN KNAUER