Der saure Weg

In der Stiftskirche gastierte der Kammerchor Baden-Württemberg.

Schwäbisches Tagblatt, 20.02.2017

Jochen Woll war mit seinem Jungen Kammerchor Baden-Württemberg schon mehrfach in der Stiftskirchen-Motette zu Gast [...] Seit seinem 30-Jahr-Jubiläum 2015 nennt sich das Ensemble – den Anfängen längst entwachsen – nur noch Kammerchor Baden-Württemberg. Hier kommen ausgewählte Sänger(innen) aus dem gesamten Land zu kompakten Probenphasen zusammen, gefördert von der Landesregierung und dem Kulturamt der Stadt Stuttgart.
Die einstudierten A-cappella-Programme sind ambitioniert und technisch anspruchsvoll, wie die gut 250 Motettenbesucher am Vorabend des Sonntags Sexagesimae (60 Tage vor Ostern) hören konnten. Zu Beginn die Choral-Kantate „Unser Leben ist ein Schatten“ von Johann Bach, 1604 geborener Großonkel Johann Sebastians, Stammvater der „Erfurter Linie“ und der früheste Komponist der weitverzweigten Musikerfamilie. Der Text wird mit typisch barocker Klangsymbolik illustriert, die Vergänglichkeit etwa durch flüchtige, ins Nichts abreißende Linien. Die Barockzeit liebte Echo- und räumliche Stereoeffekte – hier antworteten drei Solo-Stimmen von fern aus der Sakristei. Die Distanz war für die direkt aneinander anschließenden Wechsel ein Risiko, die Intonation blieb aber insgesamt stabil. [...]
In Johann Sebastian Bachs doppelchöriger Motette „Komm, Jesu, komm“ (BWV 229) führte der emphatische Ausdruckswille oft zu verfärbten Vokalen. Bei der klagevollen Passage „der saure Weg“ hatte jeder Einsatz eine andere Timbrierung und agogische Ausrichtung.
Eindrucksvoll Knut Nystedts Klangcollage „Immortal Bach“, bei der die Töne des Bach-Chorals „Komm, süßer Tod“ nach und nach „hängenbleiben“, sich in schillernden Clustern überlagern. Um den Klang wie eine Kuppel im Raum aufzufächern, hatte sich der Chor auf die vier Ecken des Mittelschiffs verteilt.
Romantische Werke wie Brahms‘ „Drei Motetten“ op. 110 überzeugten klanglich, dynamisch und gestalterisch mehr als die barocken. In Regers „Herr, strafe mich nicht“ wirkten die Klänge am geschlossensten, mit manch schönem Pianissimo und effektvoll herausgearbeiteten Textstellen: „Gott meiner Gerechtigkeit“ wie in golden strahlenden Großbuchstaben, die tiefen Bässe bei „denn ich bin schwach“. Ganz leise, in sich ruhend, der Choral „Ich liege und schlafe ganz in Frieden“. Hier klang der Chor wirklich rund.

ACHIM STRICKER