Zeitreise durch Jahrhunderte mit Kammerchor

Stuttgarter Nachrichten, 29.09.2008

Im Mittelalter lag die Förderung von Kunst und Wissenschaft in den Händen der Kirche. Wer eine höhere Bildung anstrebte, ging ins Kloster. Hier nahm auch die abendländische Kunstmusik ihren Anfang: in Gestalt der einstimmigen, unbegleiteten gregorianischen Gesänge der Mönche.

In einem dramaturgisch klug aufgebauten A-cappella-Konzert in der Leonhardskirche nahm der Junge Kammerchor Baden-Württemberg sein Publikum mit auf eine musikalische Zeitreise durch die Jahrhunderte. In unterschiedlichen Vertonungen des "Vaterunsers" erlebte das Publikum am Samstagabend, wie der im Mittelalter gesetzte Keim in der späteren kunstvoll-mehrstimmigen Kirchenmusik aufging und mitverwoben wurde. Über Schütz, Bach, Liszt, Mendelssohn, Verdi und Strawinsky landete man schließlich mit der Motette "De Tempore" des tschechischen Komponisten Petr Eben am Ende des 20. Jahrhunderts.

Unter der Leitung ihres Gründers Jochen Woll demonstrierte der Chor sein Potenzial. Zwar hätte man sich im ersten Teil noch etwas mehr Balance gewünscht und eine noch reinere Intonation. In Bachs Motette "Komm, Jesu, komm" setzten sich die Soprane zu scharfkantig von den blass artikulierenden Männerstimmen ab. Aber vor allem in den Werken des 19. und 20. Jahrhunderts entfaltete der Chor eine berückende Klanglichkeit, in der die besonderen Finessen des jeweiligen Personalstils wunderbar zur Geltung kamen: nicht nur Liszts harmonisches Changieren, Verdis theatralisches Gebärden oder die expressive Farbenpracht des südamerikanischen Komponisten Heitar Villa-Lobos, sondern auch der karge Gestus Strawinskys und die zwischen rhythmischem Sprechgesang und Klangflächen wechselnde Dramaturgie Petr Ebens. Dessen Motette mündete da hinein, wo man begonnen hatte: in eine gregorianische Choralmelodie.

(Verena Großkreutz)