Die Bäche vor Bach

Junger Kammerchor und Stefan Göttelmann (Orgel) in St. Vitus

Rhein Neckar Zeitung, 28.09.2000

von Reinhard Osthus

Genießt die Musik der Bach-Söhne inzwischen wenigstens leidlich und teilweise den Bekanntheitsgrad, der ihr qualitativ zusteht, so klafft bei der Kenntnis der Musik aus Johann Sebastians Vater- und Großvatergeneration der großen Musikerfamilie noch eine Lücke. Dreizehn Sängerinnen und Sänger des Jungen Kammerchors Baden-Württemberg haben nun unter der Leitung von Jochen Woll, der sich zugleich in die Singenden einreihte, ein Programm mit dem Titel „Bach vor Bach“ vorgestellt, das ein Schlaglicht auf die A-cappella-Musik einiger Bach‘scher Kantoren warf, die allesamt den Generationen vor dem Thomaskantor angehören. Dabei war mit der Handschuhsheirner St.-Vitus-Kirche der durchaus passende Ort gewählt, trug doch der im 16. Jahrhundert aus Ungarn eingewanderte Stammvater der gesamten Familie den Namen Vitus.

Johann Bach (1604 - 1673), ein Großonkel Johann Sebastians, war Organist in Erfurt. Seine sechsstimmige Motette „Unser Leben ist ein Schatten“ erinnerte in ihrer Doppelchörigkeit an die venezianische Schule, wobei der Wechsel zwischen Hauptchor und Fernchor quasi als Wechselgang zwischen Diesseits und Jenseits auch dramaturgische Funktion hatte.
Gewohnt meisterhaft und makellos präsentierte sich dabei der Junge Kammerchor, dessen außerordentliche stimmliche Fähigkeiten nebst reinster Intonation und transparentestem, ausbalanciertem Klangbild sowie schlanker Tongebung wie geschaffen sind für die Wiedergabe barocker A-cappella-Kirchenmusik in kleiner Besetzung. Neben dem tragenden Tonsatz insgesamt kamen diese herausragenden Qualitäten insbesondere der Darstellung bildhafter Affekte zugute. Das zeigte sich auch in Johann Bachs folgender Motette „Weint nicht um meinen Tod“ sowie in Johann Michael Bachs „Das Blut Jesu Christi“, seiner Neujahrsmotette „Sei lieber Tag willkommen“, die in ihrer einfachen Fröhlichkeit einer der raren Programmpunkte war, der sich nicht dem Thema Vergänglichkeit widmete, und seinem achtstimmigen „Nun hab ich überwunden“, wobei die häufige Repetion des Wortes „nun“ am Beginn schon vorausweist auf ähnliche Techniken bei Johann Sebastian, beispielsweise auf seine berühmte Kantate „Ich, ich, ich - ich hatte viel Bekümmernis“.

Johann Michael (1648 - 1694), Organist in Gehren, war übrigens nicht nur Johann Sebastians Onkel zweiten Grades, sondern auch sein erster Schwiegervater. Dessen Bruder Johann Christoph (1642 -1703), Kirchenmusiker in Eisenach, gilt heute als der bedeutendste Vertreter der Bach-Familie seiner Generation. Von ihm erklangen die drei Motetten zu fünf Stimmen „Der Mensch vom Weibe geboren“, „Der Gerechte, ob er gleich zu zeitlich stirbt“ und „Sei getreu bis in den Tod“.

Ganz ohne Johann Sebastian ging es dann wohl doch nicht. Die unter seinem Namen firmierende Motette „Ich lasse dich nicht“ stammt in Wirklichkeit wohl ebenfalls von Johann Christoph, doch das abschließende „Komm, Jesu, komm“ (BMV 229) ist tatsächlich von ihm selbst.

Auch die zwischen die Mitglieder der Bach-Familie eingeschobenen Sätze aus dem „Musikalischen Opfer“, interpretiert von Stefan Göttelmann an der Orgel, machten durchaus Sinn; stellten sie doch mit Johann Sebastians letztem Opus die Kulmination kontrapunktischer Setzkunst dar, die sich im Laufe der Generationen angesammelt hatte. Der durchdachten Artikulation und dem an sich soliden Spiel stand eine vielleicht zu spitze und scharfe Registerwahl entgegen, die den eh schon sehr direkten Klang der Orgel noch unterstützte. Zur Problematik, Zungenregister auch mehrstimmig erklingen zu lassen, kam hier noch, dass bis auf die Fuga Canonica und die Triosonate alle Sätze des Werkes auf dem Programm standen, also auch die für Violine gedachten Kanons, welche auf der Orgel naturgemäß nicht immer überzeugen können.